
Bei der Parallelveranstaltung der Vereinten Nationen mit dem Titel „Nicaragua: Contemporary Architecture“, welche von Peace Brigades International während der 58. Tagung des Menschenrechtsrates organisiert wurde, gaben UN-Expert*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen kritische Einblicke in die anhaltende Menschenrechtskrise in Nicaragua, wo seit 2018 eine systematische Verschärfung der Repression stattfindet.
Die UN-Menschenrechtsexpert*innengruppe für Nicaragua, vertreten durch Jan-Michael Simon und Ariela Peralta, dokumentierte die zunehmenden Kontrollmethoden der Regierung - darunter die gewaltsame Unterdrückung von Protesten, willkürliche Verhaftungen, Folter und die gezielte Ausschaltung der politischen Opposition. Seit Februar 2023 verschärfte die Regierung ihre Repression weiter, indem sie Hunderten von Nicaraguanern die Staatsbürgerschaft entzog, sie somit staatenlos machte und die Beschlagnahmung von Vermögenswerten ermöglichte. Peralta betonte, dass diese Massnahmen nicht nur die politische Opposition zum Schweigen bringen, sondern auch die internationale rechtliche Rechenschaftspflicht und den Schutz der Menschenrechte vor grosse Herausforderungen stellen.
Andrés Sánchez Thorin vom Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte betonte, dass die jüngsten Verfassungsreformen Rechtsverletzungen legalisieren und damit grundlegende Garantien für ein ordnungsgemässes Verfahren aushebeln. „Diese Änderungen werden durch die Aufhebung der Gewaltenteilung noch verstärkt, da die Legislative und die Judikative neu als Organe definiert sind, die von der Präsidentschaft koordiniert werden." Thorin warnte ausserdem davor, dass die Aufhebung des ausdrücklichen Verbots von Folter und die Legalisierung paramilitärischer Gruppen die Menschenrechtskrise verschärfen werden.
Salvador Marenco vom „Colectivo Derechos Humanos Nicaragua Nunca Más“ bekräftigte diese Befürchtungen, indem er darauf hinwies, dass der faktische Ausnahmezustand und die unrechtmässigen Verfassungsreformen die verbliebenen demokratischen Institutionen Nicaraguas faktisch beseitigt haben. Der rechtliche Rahmen erleichtert nun die Straffreiheit und ermöglicht systematische Unterdrückung, willkürliche Verhaftungen und gewaltsames Verschwindenlassen. Marenco forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Verbrechen vor Gremien wie dem Internationalen Gerichtshof anzuprangern und sich damit den jüngsten Resolutionen des Europäischen Parlaments anzuschliessen.
In einem beeindruckenden persönlichen Zeugnis beschrieb Eugenia S. Valle de Boitano Nicaragua als ein „allumfassendes Gefängnis“, in dem das Recht auf freie Meinungsäusserung ausgelöscht wurde. Sie berichtete über das gewaltsame Verschwinden ihres Mannes im April 2024, ein Fall, der beispielhaft für die weit verbreitete Unterdrückung steht, von der zahlreiche Familien betroffen sind. Ihr Appell an die internationale Gemeinschaft war eindeutig: Es muss mehr getan werden, um weitere Gräueltaten zu verhindern. „Bis heute wissen wir nicht, was genau vor sich geht“, erklärte sie und betonte, dass der Leidensweg ihrer Familie kein Einzelfall sei - Dutzende von anderen teilen das gleiche Schicksal.
Wilmer Gutiérrez Gomez, ein Verfechter indigener Rechte, thematisierte zum Abschluss der Veranstaltung die anhaltende Marginalisierung indigener und afro-deszendenter Gemeinschaften im Rahmen der neuen Verfassung Nicaraguas. Er warnte davor, dass die Militarisierung indigener Gebiete, die Einsetzung regierungsnaher Behörden und der fehlende rechtliche Schutz zu Zwangsumsiedlungen, Ermordungen und dem Verstummen von historischen Forderungen geführt haben. Gutiérrez rief zu dringenden Massnahmen zum Schutz dieser Gemeinschaften auf und betonte, dass eine echte Verfassungsreform die Menschenrechte aller Nicaraguaner*innen schützen müsse.
Die Veranstaltung zeichnete ein drastisches Bild der sich verschärfenden Menschenrechtskrise in Nicaragua und unterstrich die Notwendigkeit anhaltender internationaler Aufmerksamkeit und Massnahmen, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen und die Betroffenen der repressiven Politik zu unterstützen.
Die Expert*innengruppe für Nicaragua legt dem Menschenrechtsrat am 28. Februar 2025 ihren Bericht vor, und der Rat wird am Ende der Sitzung über die Verlängerung ihres Mandats entscheiden.