
Am 28. April 2021 starteten in Kolumbien landesweite Proteste, die die Polizei in zahlreichen Städten gewaltsam niedergeschlug. Bis heute hat die Justiz die ranghohen Beamten der öffentlichen Sicherheit, welche gemäss Untersuchungen für massive Menschenrechtsverletzungen während der Proteste verantwortlich sind, nicht zur Rechenschaft gezogen.
Die Nichtregierungsorganisationen „Temblores“ und „Indepaz“ registrierten während des Nationalstreiks 2021 seitens der Sicherheitskräfte über 3000 Menschenrechtsverletzungen, darunter 80 Tötungsfälle, rund 1500 Fälle von physischer Gewalt und dutzende Fälle sexueller Gewalt. Von den 3169 registrierten Verbrechen, erhob die Staatsanwaltschaft nur 65 Fälle gegen Beamte der öffentlichen Sicherheitskräfte und von diesen wurden wiederum bereits 11 Fälle zu den Akten gelegt. Die Opfer und Hinterbliebenen warten bis heute vergeblich auf Schuldsprüche. Gleichzeitig sind gegen 230 Mitglieder der Protestbewegung Verfahren hängig, worüber auch der UN-Menschenrechtsrat Besorgnis äusserte.
Gewaltsames Verschwindenlassen von Protestierenden
Zu den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die während des Nationalstreiks begangen wurden, gehört das gewaltsame Verschwindenlassen von Protestierenden durch die Sicherheitskräfte. Die genaue Anzahl der Opfer ist bis heute unklar. Menschenrechtsorganisationen, die die Fälle begleiten, prangern die Straflosigkeit und den Mangel an Aufklärung an. Anfang dieses Jahres beschuldigte ein Unternehmer, der in Bogotá Friedhöfe verwaltet, die Polizei, sie habe die Krematorien verschiedener Friedhöfe benutzt, um während der Proteste bis zu 300 Personen verschwinden zu lassen. Gemäss Alberto Yepes, Koordinator der Menschenrechtsbeobachtungsstelle der NGO-Plattform «Coordinación Colombia Europa Estados Unidos» (CCEEU), fehlen gegenwärtig jegliche Spuren von mindestens 87 Personen, die tatsächlich in den Friedhöfen von Bogotá verschwunden sein könnten.
Polizeireform auf der politischen Agenda
Der Präsident Gustavo Petros versprach bei seinem Amtsantritt im August vergangenen Jahres die Polizeireform prioritär zu behandeln. Gegenwärtig befindet sich das Vorhaben im nationalen Parlament. Ein wesentliches Element der Umstrukturierung soll dabei der Umzug der Polizei aus dem Verteidigungsministerium in ein Ministerium zivilen Charakters sein. Ziel der Reform ist das Ende der Polizeigewalt, die Wiedergutmachung der angerichteten Schäden und die Garantie der Nichtwiederholung als Verpflichtung gegenüber den tausenden Hinterbliebenen und Opfer der Polizeigewalt in Kolumbien, welche noch immer auf Gerechtigkeit und Wahrheit warten.
Von Julian Streit, PBI-Freiwilliger in Kolumbien seit Mai 2022
Mehr Informationen
- Vollständiger Artikel mit Quellenangaben
- Herausforderungen auf dem Weg zu einem umfassenden Frieden, Artikel von Julian Streit über die Friedenspolitik der Regierung Pretos und die Begleitung einer humanitären Aktion im Pazifikraum, April 2023
- Julian Streit im Einsatz